Am 27. August 2025 hatte das Bundessozialgericht unter dem Aktenzeichen B 6 KA 9/24 R über ein Grundsatzverfahren zum GKV-Regress in Form des sog. „sonstigen Schadens“ zu entscheiden. medlegal Rechtsanwälte repräsentiert durch die Rechtsanwälte Jens Pruetting und Benjamin Oliver Fischer, vertraten die Revision.

➡️ Alle Verordnungen waren unstreitig medizinisch indiziert. Trotzdem soll der Arzt eine halbe Million Euro zurückzahlen – Geld, das er nie erhalten hat.

➡️ Der „sonstige Schaden“ darf – wie erwartet – weiterexistieren … vorerst! Der Weg in dieser für alle Leistungserbringer so bedeutenden Frage ist nun frei zum Bundesverfassungsgericht, wir werden ihn beschreiten.

➡️ Zugleich regen wir dringend eine gesetzliche Änderung an. Es kann nicht sein, dass allein aus formalen Gründen hohe Regressforderungen festgesetzt werden, die die Existenz von Leistungserbringern bedrohen, obwohl die erbrachte Leistung selbst nicht zu beanstanden ist.

Es wurde unsererseits vertieft und fundiert darauf hingewiesen, dass

  1. ein subjektiv-öffentliches Recht zu Gunsten der zuständigen Krankenkasse nach dem rechtsstaatlichen Vorbehalt des Gesetzes nicht aus bürgerlichem Recht hergeleitet werden kann, wie es in der BSG-Judikatur bislang getan worden war,
  2. § 48 Abs. 1 BMV-Ä keine tragfähige Grundlage ist, da dieser nur die Feststellung, nicht auch die Festsetzungvon Ansprüchen erlaubt und dies eine evidente Bezugnahme der Bundesmantelvertragsparteien auf die BSG-Judikatur gewesen ist, die sich seit 1983 und Folgejahren entwickelt hat (§ 48 Abs. 1 BMV-Ä stammt in seiner heutigen Form aus dem Jahr 1990),
  3. dass die §§ 72 und 82 SGB V keine vollständige Einrichtung eines GKV-Haftungssystems durch die Bundesmantelvertragsparteien zulassen können, was mit Blick auf die Einführung der §§ 106 – 106d SGB V für den wesentlichen Part von Wirtschaftlichkeits- und Abrechnungsprüfung auch der Gesetzgeber so gesehen hat,
  4. dass der parlamentarische Gesetzgeber mit seinem vereinzelten Hinweis in der Gesetzesbegründung zu § 106 SGB V (BT-Drs. 18/4095 S. 137 f.), dass der „sonstige Schaden unberührt“ bleibe, nur gezeigt hat, dass eine Auseinandersetzung mit diesem Rechtsprechungskonstrukt schlicht nicht stattgefunden hat (eine ernsthafte Befassung des parlamentarischen Gesetzgebers mit besagtem Konstrukt hat bis heute niemand aufzeigen können),
  5. dass sich schon mit Blick auf die vielfach mangelhaft trennscharfe Unterscheidbarkeit und mit Blick auf den Umstand, dass Formalverstöße regelmäßig schwerer wiegen als Inhaltliche, eine willkürfreie Abgrenzung zur Wirtschaftlichkeits- und Abrechnungsprüfung nicht machen lässt und gegen Art. 3 Abs. 1 GG verstößt,
  6. dass ein Ansatz des normativen Schadensbegriffs im § 48 Abs. 1 BMV-Ä schon deshalb ausscheiden muss, weil die zugehörige Rechtsprechung des BSG vom Mai 1994 stammt, während der BMV-Ä zum 1.1.1990 mit dem bis heute unverändert gebliebenen § 48 Abs. 1 BMV-Ä in Kraft trat,
  7. dass § 48 Abs. 1 BMV-Ä explizit von einer Verursachung spricht und auch die KBV als eine der beiden Bundesmantelvertragsparteien hier das Gebot der Kausalität sieht,
  8. dass Herren des BMV-Ä die Bundesmantelvertragsparteien und nicht das BSG ist, so dass die Auslegungshoheit (§§ 61 SGB X iVm 133, 157 BGB analog) bei den Bundesmantelvertragsparteien liegt und hier gerade nicht zu dem vom BSG präferierten scharfen normativen Schadensbegriff führt,
  9. dass eine VA-Befugnis zu Gunsten der gemeinsamen Prüfstelle sich nur aus einer von den Bundesmantelvertragsparteien abgeleiteten Verweisung ergibt und diese schlicht nicht die Kompetenz für eine solche Ermächtigungsausweitung haben können,
  10. dass Verhältnismäßigkeitserwägungen sowohl bei der Haftungsbegründung als auch bei der Haftungsausfüllung selbst bei einem Schadensersatzanspruch sinnvoll und im Rahmen staatlicher Eingriffe zwingend notwendig sind und
  11. dass es an der Ausgangsbehörde gewesen wäre, den Sachverhalt zu ermitteln und ein Mitverschulden der zuständigen Krankenkasse wegen verzögerter Anzeige an die gemeinsame Prüfstelle sowie eine Rückholmöglichkeit von den begünstigten Apotheken zu prüfen gewesen wäre.

 

Der 6. Senat des Bundessozialgerichts hat in seinem Urteil sofort im Anschluss an diese komplexe Verhandlung und Gedankenführung sämtliche Bedenken verworfen und dabei den Revisionsführer mit vielen Fragen zurückgelassen. Nur wenige inhaltliche Ausführungen wurden am Verkündungstag dargeboten. Zu diesen wenigen Ansätzen gehört, dass das Bundessozialgericht offenbar eine Auswechselung der Anspruchsgrundlage der Krankenkasse gegenüber früheren urteilen vorgenommen hat und den Schadensersatzanspruch künftig auf § 48 Abs. 1 BMV-Ä direkt stützen möchte. Das würde freilich bedeuten, dass die bisherigen Judikate mit ihrem Verweis auf das Bürgerliche Recht insoweit als verfehlt betrachtet werden müssten. Was sich hieraus ergibt, wird zu analysieren sein. Im Übrigen wird man die schriftlichen Urteilsgründe abzuwarten haben. Ob Karlsruhe letztlich halten wird, dass Kassel auf einer derart verfassungsrechtlich problematischen Judikatur beharrt, bleibt abzuwarten.